Unter der Diagnose „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ wird ein komplexes Syndrom verstanden, das sich kennzeichnet durch lang andauernde und ausgeprägte Schwierigkeiten der Emotionsregulation, der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und einer tiefgreifenden Instabilität im Selbstbild/ der Identität. Die Schwierigkeiten führen zu klinisch bedeutsamem Leiden.
Verlauf und Komorbiditäten:
Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (BPS) beginnt meist im Jugendalter und geht meist einher mit einer Reihe von zusätzlichen psychischen Problemen, z.B. wiederkehrenden Depressionen, starken sozialen Ängsten, einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD), Ess-Störungen oder Alkohol-/Drogen-Abusus.
Inzwischen gibt es gut gesicherte Befunde, die zeigen, dass bei spezifischer Behandlung (spezifische Psychotherapie plus bei Bedarf psychiatrische Behandlung plus bei Bedarf zusätzliche Unterstützungsangebote) die Symptome der Borderline-Störung gut behandelbar sind, so dass für einen Teil der Betroffenen die Symptomatik teilweise oder vollständig remittiert. Auch zeigen Befunde, dass es im Mittel über den Lebensverlauf zu einem Rückgang bzw. einer Veränderung der Symptomatik kommt. Die früher oft vertretene Annahme „einmal Borderline, immer Borderline“, die zu viel Hoffnungslosigkeit auf Seiten von Betroffenen, Angehörigen und Helfer*innen geführt hatte, kann damit nicht umfassend aufrecht erhalten werden. Dennoch ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung eine komplexe psychische Erkrankung, die einer spezifischen, meist längerfristigen Behandlung bedarf.
Die Basis für eine solche spezifische psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung ist dabei eine professionelle und umfassende Diagnostik. Am besten durch eine/n Facharzt/ -ärztin für Psychiatrie/Psychotherapie und/oder eine/n spezialisierte/n Psycholog*in /Psychologische/n Psychotherapeut*in. Häufige Anlaufstellen für eine umfassende Diagnostik sind die Psychiatrischen Institutsambulanzen der Kliniken, auch im Rahmen von Klinik- und Tagklinik-Aufenthalten kann die Diagnose gestellt werden.
Der folgende Überblick über die Diagnostik entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Department Psychologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie, LMU München. Vielen Dank an Sarah Back und Prof.Dr.Katja Bertsch für die freundliche Überlassung der Texte.
Die Grundlage für die Diagnose psychiatrischer Erkrankungen stellen, wie auch bei anderen somatischen und psychiatrischen Erkrankungen, die Klassifikations-Systeme des ICD-10 sowie ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Revision bzw. 11. Revision) und des DSM-IV / DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4. und 5. Auflage) dar. Bis 2027 gelten im europäischen Raum sowohl der ICD-10 (vergleichbar den Kriterien der DSM-IV) als auch der neuere ICD-11, danach wird nur noch der ICD-11 gültig sein.
Diagnostische Kriterien – Überblick:
Mit dem neuen Diagnosemanual ICD-11 treten Neuerungen in der Konzeptualisierung und Diagnostik der Borderline Persönlichkkeitsstörung in Kraft. Bis 2027 wird es noch möglich sein, nach dem alten ICD-10 die klassische Borderline Störung diagnostizieren zu dürfen, längerfristig wird sie sich jedoch mit allen anderen Persönlichkeitsstörungsgruppen zu einer gesammelten Diagnose der „Persönlichkeitsstörung“ umwandeln, welche in verschieden schwerem Ausmaß erfüllt und von unterschiedlichen ungünstigen Persönlichkeitseigenschaften begleitet sein kann. Dies bedeutet, dass der Typ Borderline als alleinstehende Diagnose nicht mehr in der alten Form existieren wird, aber in bestimmten Fällen als Merkmal der Hauptdiagnose „Persönlichkeitsstörung“ beigefügt werden kann (siehe ICD-11 Kriterien weiter unten).
Basierend auf zahlreichen Längsschnittstudien an Betroffenen der Borderline-Störung wurde festgestellt, dass die Symptome der Störung zum einen nicht immer chronisch, d.h. lebenslang andauern und zum anderen Betroffene, die früher einmal die diagnostischen Kriterien einer Borderline-Störung erfüllt hatten, auch später noch erhebliche Einschränkungen erleben im Berufs- oder Sozialleben. Da diese ehemals Betroffenen immer noch erhebliche Leiden aufweisen, aber nicht mehr die Diagnose erfüllen, bedurfte es einer wissenschaftlichen Weiterentwicklung des Diagnosesystems sowie einer neuen kompakteren Diagnose, um u.a. auch solchen Betroffenen therapeutische Zugänge zu ermöglichen, die immer noch Einschränkungen in der Lebensführung haben und um diese adäquat behandeln zu können.
Wir stellen im Folgenden sowohl die Kriterien nach DSM-IV (ICD-10) und ICD-11 vor.
Die Kriterien des ICD-10 ähneln sehr/ orientieren sich an den im Folgenden dargestellten Kriterien des DSM-IV.
Affektivität
- affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage auftreten
- unangemessene starke Wut oder Schwierigkeiten, Wut oder Ärger zu kontrollieren (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernder Ärger, wiederholte Prügeleien)
- chronisches Gefühl der Leere
Impulsivität
- Impulsivität in mindestens 2 potenziell selbstschädigenden Bereichen (z. B. Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Fressanfälle“, Geldausgaben)
- wiederkehrende Suiziddrohungen, -andeutungen oder -versuche oder selbstverletzendes Verhalten
Kognition
- vorübergehende stressabhängige paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome
- Identitätsstörungen: eine ausgeprägte Instabilität des Selbstbildes oder des Gefühls für sich selbst (Selbstwahrnehmung)
Interpersoneller Bereich
- verzweifeltes Bemühen, reales oder imaginäres Alleinsein zu verhindern
- ein Muster von instabilen, intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen
Henning Saß u. a. (Hrsg.): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen. Textrevision – DSM-IV-TR. Hogrefe Verlag, 2003.
Neue Diagnostische Kriterien
Im Rahmen der wissenschaftlichen Weiterentwicklung werden Persönlichkeitsstörungen ab 2022 durch folgende allgemeine Kriterien ersetzt:
Anhaltende Störung (mindestens 2 Jahre), gekennzeichnet durch:
- Probleme im Funktionsniveau von Aspekten des Selbst (d.h. der Identität, des Selbstwertgefühls, Genauigkeit der eigenen Sicht auf die eigene Persönlichkeit und die Fähigkeit zur Selbststeuerung) und/oder
- Zwischenmenschliche Probleme in verschiedenen Kontexten und sozialen Beziehungen (d.h. des Interesses, Beziehungen zu anderen einzugehen, die Fähigkeit, die Perspektiven anderer zu verstehen und respektieren, enge und beidseitig bedeutsame Beziehungen zu pflegen, und Konflikte mit anderen Menschen zu bewältigen)
- Manifestiert in ungünstigen und rigiden Mustern von Denkensweise, emotionalem Erleben, emotionalem Ausdruck und Verhalten (d.h. Stärke und Angemessenheit emotionaler Reaktionen und dem Wunsch, unerwünschte Emotionen zu erkennen und regulieren, Richtigkeit der Bewertung von Situationen und zwischenmenschlichen Beziehungen sowie angemessene Entscheidungen und stabile aber auch flexible Ansichten und Überzeugungen zu vertreten, Möglichkeit flexibel Impulse zu kontrollieren und Verhalten je nach Konsequenz abzuwägen sowie die Angemessenheit von Verhaltensreaktionen auf starke Emotionen)
Die Persönlichkeitsstörung ist:
- in einer Reihe von persönlichen und sozialen Situationen vorhanden
- nicht entwicklungsangemessen
- nicht nur durch soziale oder kulturelle Bedingungen, einschließlich gesellschaftspolitischer Konflikte, zu erklären
- nicht auf die direkten Auswirkungen eines Medikaments oder einer Substanz zurückzuführen, einschließlich Entzugserscheinungen
- verbunden mit erheblichem Leid oder erheblicher Beeinträchtigung im persönlichen, familiären, sozialen, erzieherischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen
Wenn diese Kriterien erfüllt sind, können 3 verschiedene Schweregrade der Störung zugeordnet werden:
- Leichte Persönlichkeitsstörung
Die Einschränkungen in den Funktionsbereichen ist auf einzelne Lebensbereiche beschränkt und einige soziale/berufliche Rollen können normal erfüllt werden. Außerdem gehen die Beeinträchtigungen nicht mit gravierendem Schaden für sich selbst und andere einher.
- Mäßige Persönlichkeitsstörung
Die Einschränkungen in den Funktionsbereichen zeigt sich in mehreren Lebensbereichen, die emotionalen, kognitiven und Verhaltenssymptome sind von mittlerem Schweregrad und es kann manchmal auch zu Selbst-/Fremdverletzung kommen.
- Schwere Persönlichkeitsstörung
Die Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen ist aufgrund der Funktionsbereicheinschränkungen nicht möglich (d.h. erstreckt sich auf alle Lebensbereiche) und geht oft mit Selbst-/Fremdverletzung einher.
Durch die neue Diagnose ist es nicht möglich, therapeutische Hilfe zu erhalten, wenn erhebliche Probleme in der Lebensführung auch nach einem Abklingen der Borderline-Symptome bestehen. Außerdem soll dadurch zur Entstigmatisierung des Labels „Borderline“ beigetragen und somit der Zugang zu therapeutischem Angebot und der gesellschaftlichen Anerkennung erleichtert werden.
Wenn die zuständige Psycholog*in/Psychiater*in ein starkes „Borderline“-Muster (d.h. die ICD-10 Symptome der Borderline Störung) identifizieren kann, ist es außerdem möglich, neben der Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ das Persönlichkeitsmerkmal „Borderline“ zu vergeben. Das ist jedoch keine Pflicht, sondern optional und kann dann den Zugang zu bestimmten therapeutischen Maßnahmen (wie z.B. der DBT), die sich in der Vergangenheit als besonders wirksam bei Borderline erwiesen hat, gewährleisten.
Quelle: Renneberg, B., & Herpertz, S. C. (2021). Persönlichkeitsstörungen (Vol. 79). Hogrefe Verlag.